Wie könnte eine »Disruptive Gestaltung« aussehen?

Disruptive Gestaltung

»Disruptive Innovation« oder auch »Disruptive Technologie« sind zur Zeit beliebte Begriffspaare, die etablierte Anbieter und große Unternehmen verwenden, scheinbar aus dem Nichts (weil für sie unerwartet) auftauchende aber auf dem Markt (nach kurzer Zeit) höchst erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen zu kategorisieren und zu erklären. Und deshalb scheint eine »disruptive Vorgehensweise« reizvoll und erfolgsversprechend zu sein. Aber gerade an der Erklärung, was »disruptiv« wirklich ist oder auch sein könnte, herrscht Mangel und auch eine gewisse Beliebigkeit in der begrifflichen Verwendung. Vielleicht würde helfen, nicht nur im Nachhinein zu beschreiben, was passiert ist sondern früher anzusetzen und zu fragen, welche Schritte und Umstände zum Erfolg geführt haben – und somit auch, was eine »Disruptive Gestaltung« sein und auszeichnen könnte und – falls es diese überhaupt gibt – in wie weit diese überhaupt planbar und steuerbar ist.

Was ist »Disruptive Innovation«?
»Disruptive Innovation« ist eine Wortschöpfung von Prof. Clayton M. Christensen, deren Bedeutung in seinem Buch »The Innovator’s Dilemma« das erste Mal erläutert wird. Christensen bezeichnet »Disruptive Innovation« nicht als die eine bahnbrechende und einzigartige Innovation (Produkt oder Dienstleistung) und auch nicht als die Perfektionierung eines bestehenden Produktes. Bei einer disruptiven Innovation gehe es vielmehr darum, Produkte oder auch Dienstleistungen zu entwickeln, die so einfach und auch günstig sind, dass sie für eine sehr große Anzahl von Menschen brauchbar, zugänglich und erschwinglich sind oder einen ganz neuen Markt eröffnen: »find a way to turn nonconsumers into consumers«. Große Konzerne sind aber oft so auf Ihre Produkte, Bestandskunden und Gewinnmaximierung fokussiert, dass es laut Christensen zu einem »Innovator’s Dilemma« kommt, welches besagt, dass neue und innovative Ideen in großen Firmen zwar gedacht werden aber aufgrund der Strukturen und durch die Ablehnung der Bedienung eines Low-end-Marktsegments nicht zum Tragen kommen – und so letztendlich oft kleinere und agilere Unternehmen den Erfolg für sich verbuchen können.

»Disruptiv« scheint auch zu bedeuten, die gewohnten Wege zu verlassen, also einen Schritt zur Seite zu treten, um einen neuen, unabhängigen Blick in die Zukunft zu richten. Der Ansatz ist nicht unbedingt neu, Strukturen zu schaffen, in denen (unabhängig vom laufenden Geschäftsbetrieb) Innovationen entwickelt werden können, die auch in Zukunft den Fortbestand einer großen Firma gewährleisten soll. Drei Beispiele:

GE – General Electric Research Laboratory (1900)
Es war das erste industrielle Forschungs-Labor seiner Zeit, welches nicht in der Chemie/Pharmazie verortet war. Der leitende Ingenieur Charles P. Steinmetz erkannte früh, dass in Europa (u.a. bei Siemens) zum Thema des elektrischen Lichts geforscht wurde und dies die Vorherrschaft seines Arbeitgebers General Electric auf diesem Gebiet gefährden könnte. Steinmetz wandte sich daher zusammen mit E.W. Rice an das GE Management und bat um Geld und Ressourcen für ein Lab, das über bestehende Forschungseinrichtungen hinausgehen sollte. Junge, in der wissenschaftlichen Arbeitsweise erfahrene Ingenieure, wurden angeworben und genug Freiraum gelassen, um eigene Forschungsbereiche zu bearbeiten. Wichtige Forschungsergebnisse waren zum Beispiel die Wirkung und Verwendung von Quecksilberdampf, formbarem Wolfram oder Kohlefaden. Es war ein erfolgreiches Zusammenspiel von großen Denkern und Wissenschaftlern, Teamarbeit, unabhängiges Arbeiten ohne direkten Erfolgsdruck, Leidenschaft, finanzielle Unterstützung und letztendlich unternehmerische Verwertung durch Anmeldung zahlreicher Patente. (Quelle: Edison Tech Center)

IBM – Watson Scientific Computing Laboratory (1945)
»Das Forschungslabor wurde 1945 an der Columbia University gegründet. Hier wurden nicht nur legendäre Computerkonzepte entwickelt wie der IBM Selective Sequence Electronic Calculator (SSEC) mit seinen 12500 Röhren und 21400 Schaltrelais oder der erste Supercomputer Naval Ordnance Research Calculator (NORC), der von 1954 bis 1963 der leistungsstärkste Computer der Welt war. Das Watson Lab war auch der Vorläufer der IBM Research Division, die heute sieben große Forschungseinrichtungen betreibt. Auch das Watson-Experiment entsprang dem Watson Laboratory. Noch wichtiger aber ist, dass die Forschungslabore und Knowledge-Center die IBM zum Patentkrösus gemacht haben. Das Unternehmen meldete allein 2010 knapp 5900 Patente in den USA an und verteidigte damit zum 18. Mal in Folge den Spitzenplatz unter den amerikanischen Patentanmeldern. « (Quelle: Computerwoche)

XEROX – Xerox PARC (1970)
»Das Forschungszentrum Xerox Palo Alto Research Center (Xerox PARC) wurde 1970 auf Anregung des Xerox-Chefwissenschaftlers Jack Goldman im kalifornischen Palo Alto gegründet. Xerox verlor zu dieser Zeit den Patentschutz für die Xerographie (Fotokopierer) und fürchtete, Marktanteile an japanische Hersteller zu verlieren. Um dem entgegenzuwirken, sollte PARC neue Technologien für Xerox entwickeln, damit die Firma auch weiterhin ihre marktbeherrschende Stellung im Bereich der Bürotechnik beibehalten könne. Im Lauf der 1970er Jahre wurden dort mehrere bahnbrechende Technologien wie die Netzwerktechnik Ethernet und das Konzept der graphischen Benutzeroberfläche (GUI) mit Maus-Bedienung entwickelt, die zu Standards in der Informationstechnik wurden. Xerox konnte jedoch, bis auf den Laserdrucker, selbst keine davon zum Erfolg führen.« (Quelle: wikipedia)

Ist »disruptiv« vielleicht nur ein Trend?
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es anscheinend nicht ausreicht, Innovationen zu entwickeln, wenn sie nicht den Weg in den Markt finden oder andersartig zu verwerten – auf jeden Fall in wirtschaftlicher Hinsicht für das entsprechende Unternehmen. Sowohl die (firmen)internen Abhängigkeitsgrößen als auch die externen Parameter (des Marktes und der Gesellschaft) sind vielfältig und komplex. »Disruptiv« zu entwickeln, führt nicht automatisch dazu, erfolgreiche Produkte zu platzieren. Folgende Fragen zeichnen sich u. a. ab:

  • Ist »disruptiv« nur eine (nachträgliche) Klassifizierung?
  • Funktioniert die Auszeichnung »disruptiv« als Qualitätsmerkmal?
  • Taugt »disruptiv« als Ansatz für Gestaltung?
  • Ist innovative Gestaltung in ihrem Kern automatisch »disruptiv«?
  • Gibt es Abstufungen von Gestaltung?
  • Sprich, ergibt es zum Beispiel Sinn, zwischen »klassischer«, »mehrheitsfähiger« oder »innovativer« Gestaltung zu unterscheiden?
  • Welche Aussagekraft hätte der Begriff »Disruptive Gestaltung«?

 

Interessant wird es, wenn man sich fragt, was »disruptiven Innovationen« begünstigt.

Um es mit einem Hilbert Meyer zugeordnetem Zitat auszudrücken:

Alle sagten: das geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht, und hat es gemacht.

 

Angenommen: »Disruptive Gestaltung« führt zu »disruptiven Innovationen«. Dann wäre »disruptiv« eine Anweisung im Sinne von »Settings«, sozusagen »Preferences« im Sinne gewisser (Vor)einstellungen. Diese Voreinstellungen müssten charakterisiert, definiert und gesetzt werden.

Welche Merkmale könnte »Disruptive Gestaltung« aufweisen?

  • Status Quo »ausblenden«?
  • »Gegenwart« nicht in die Zukunft projizieren?
  • »Anschlussfähigkeit« zeitweise vergessen?
  • Blickwinkel ändern?
  • gelernte und etablierte Wege verlassen?
  • eigene Methoden und Theorien entwickeln?
  • prozessorientierte Vorgehensweisen?
  • Cluster statt Einzellösungen?
  • Prozesse = Produkte & Produkte = Prozesse?
  • Bewertungskriterien neu beurteilen & verfassen?
  • Innovationen als solche erkennen & zulassen?
  • Chancen auf Realisierung einräumen?

 


 

»Disruptive Gestaltung« ist erst mal eine Annahme. Eine Definition im Sinne einer Theorie oder auch einer Methode, die Anwendung findet, wäre möglich. »Disruptive Gestaltung?« könnte auch als Fragestellung verstanden werden, wie Gestaltungsprozesse Wandlungen erfahren (müssen), um anschlussfähig zu bleiben. Wie und was wird vermittelt? Welche Methoden werden angewendet? Wie sieht es mit gelernten Methoden in der Praxis aus? Welche Einflussgrößen bestimmen und beinträchtigen den Gestaltungsprozess? Eine Diskussion über Sinn (und Unsinn) von »Disruptiver Gestaltung« wäre ein Schritt zur Seite – weg von gewohnten Pfaden.

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